Montag, 26. Februar 2007

Biomedizinische und biopsychosoziale Perspektiven auf Gesundheit, Krankheit, Rehabilitation und Genesung

Auf Grund der sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und des sich ändernden Krankheitsspektrum (Multimorbidität, chronische Erkrankungen) kommt es zu einem zunehmenden Wandel in der Betrachtung von Krankheit und Gesundheit.
Da die Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit die Gesundheits- und Sozialpolitik beeinflusst und mitbestimmend ist bei der Weiterentwicklung und Umstrukturierung des Gesundheitssystems, ist die Kenntnis und Auseinandersetzung mit den grundlegenden Konzepten von Gesundheit und Krankheit wichtig. Des Weiteren haben die Konzepte unmittelbare Konsequenzen für das Verhalten im Gesundheitswesen tätiger Personen und Laien.
Im Folgenden wird die biomedizinische und biopsychosoziale Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit dargestellt.

Die biomedizinische Sichtweise


Im biomedizinischen Modell werden Gesundheit und Krankheit als sich einander ausschließende gegensätzliche Zustände verstanden. Demnach entsteht eine Krankheit, wenn Noxen (schädliche Einflüsse) auf den Organismus einwirken. Dabei können verschiedene Arten von Noxen unterschieden werden:


  • chemische N. (Gifte, Drogen..),

  • physikalische N. (mech. Überbelastung..),

  • biologische N. (Bakterien, Gene..).

Als Ätiologie wird die Lehre von den Krankheitsursachen verstanden. Im Gegensatz dazu steht die Pathogenese für die Entstehung und den Verlauf einer Erkrankung. Erkrankungen können akut oder chronisch verlaufen und in einer vollständigen Wiederherstellung aller Funktionen, einer Defektheilung oder auch dem Tod enden.
Bei dem biomedizinischen Model handelt es sich um ein dichotomes (gesund versus krank) pathogenetisches (an der Krankheit und dessen Verlauf orientiertes) Modell. Dieses Modell ist sehr gut geeignet für klar umschriebene Krankheitsbilder z.B. Infektionskrankheiten.

Soziale Ursachen oder Risikofaktoren werden jedoch nicht berücksichtigt. So konzentriert sich das Modell vor allem auf die Krankheit und vernachlässigt die Betrachtung der Person in seinem sozialen Kontext.

Die biopsychosoziale Sichtweise


Wird das Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Krankheit aus biopsychosozialer Sicht betrachtet, dann umfasst es drei miteinander in Beziehung stehende Subsysteme: das biologische System (der Organismus mit seinen Organen und Zellen), das psychische System des Individuums und das soziale System, das gebildet wird durch die Verflechtungen die zwischen Gesellschaft, Familie und der Person bestehen. Die Betrachtung aller drei miteinander kommunizierender Systeme ist wichtig bei der Einschätzung des Gesundheitszustandes.
In der folgenden Abbildung wird ein Überblick über das Kontinuum zwischen „gesund" und „krank" gegeben und die Faktoren, die die aktuelle gesundheitliche Situation einer Person beeinflussen.



Prinzipiell geht die biopsychosoziale Sichtweise davon aus, dass Gesundheit und Krankheit zwei entgegengesetzte Pole eines Kontinuums sind, zwischen denen sich jede Person permanent hin und her bewegt.


Zu jeder Zeit wirken auf die Person verschiedenste Stressoren/ Anforderungen ein. Dazu zählen z.B. die biochemischen S. (Bakterien, Gene, Umweltgifte….), psychischen S. (Stress, Angst…), physikalische S. (mech. Belastung…) und soziale/ ökonomische Stressoren (ungünstige Wohnverhältnisse…).


Diesen stehen die Ressourcen gegenüber die eine Person zu Verfügung hat um ihre Lebenssituation zu meistern. Zu ihnen zählen z.B. kognitive R. (Verstehen von Zusammenhängen, Suche von Unterstützungs-möglichkeiten…), psychische R. (Zuversicht…), physiologische R. (körperlicher Zustand…), soziale/ ökonomische R. (soziales Netzwerk, finanzielle Situation…).


Das Zusammenwirken von Stressoren und Ressourcen bestimmt wie stark sich eine Person dem Pol Krankheit oder dem Pol Gesundheit annähert und wie sie ihre Situation wahrnimmt. Ziel des Gesundheitssystems ist es, die Person zu unterstützen um sich möglichst weit dem Pol Gesundheit anzunähern.
Die biopsychosoziale Sichtweise findet ihren Ausdruck in einer Vielzahl von Modellen über Gesundheit und Krankheit. Einerseits können Gesundheitsmodelle (Salutogenetische Modelle) von Krankheitsmodellen unterschieden werden. Andererseits weisen die verschiedenen biopsychosozialen Modelle eine unter-schiedliche Schwerpunktlegung auf.



Die Abbildung zeigt den Zusammenhang zwischen biomedizinischem und biopsychosozialem Modell. Die gesamte Grafik stellt die biopsychosoziale Sichtweise dar. Das Grau gezeichnete Dreieck kennzeichnet die eher mechanistische Denkweise des biomedizinischen Anteils am Modell - die Rückführung eines Gesundheitsproblems/ Krankheit auf eine gestörte Körperfunktion. Die helle Fläche stellt die psychosozialen Anteile am Modell dar.
Dieses Modell bildet die Grundlage für die ICF.

ICF - International Classification of Functioning, Disability and Health

Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) prägt den Begriff der funktionalen Gesundheit, der sich in Teilbereichen äußert. Danach gilt eine Person als funktional gesund, wenn
  • ihre körperliche Funktionen (incl. geistigen + seelischen Bereichs) und ihre Körperstrukturen allgemein anerkannten Normen entsprechen [Konzepte der Körperfunktionen und Körperstrukturen]
  • sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird [Konzept der Aktivitäten]
  • sie zu allen Lebensbereichen, die ihre wichtig sind, Zugang hat und sich in diesen Lebensbereichen in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder –strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird [Konzept der Teilhabe/ Partizipation]

Dabei gelten folgende Definitionen:

  • Körperfunktionen: physiologische Funktionen von Körpersystemen
  • Körperstrukturen: anatomische Teile des Körpers
  • Aktivität: Durchführung einer Handlung/ Aufgabe durch eine Person, repräsentiert die individuelle Perspektive der Funktionsfähigkeit.
  • Teilhabe/ Partizipation: Einbezogensein in eine Lebenssituation, repräsentiert die gesellschaftliche Perspektive der Funktionsfähigkeit
  • Umweltfaktoren: materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt (können als Hindernis oder Unterstützung wirken)
  • Personenbezogene Faktoren: Bsp: Alter, Geschlecht, Erziehung, Gewohnheiten

Die obige Abbildung stellt das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen Bereiche dar und bietet durch das Aufzeigen der Zusammenhänge vielfältige Zugänge zur Analyse eines Gesundheitsproblems und zeigt somit die möglichen Interventionsstellen auf.

Einordnung der ICF (International Classification of Function Disability and Health)

Die ICF bietet eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung des Gesundheitszustandes und der Funktionstüchtigkeit und kann somit die Kommunikation zwischen den an der Behandlung und Betreuung des Patienten beteiligten Personen erleichtern. Außerdem ist sie ein systematisches Verschlüsselungssystem für Gesundheitsinformationssysteme und kann somit auch für Datenvergleiche zwischen verschiedenen Disziplinen des Gesundheitswesens eines Landes und auf internationaler Ebene herangezogen werden.
Der größte gegenwärtige Nutzen der ICF besteht meiner Meinung nach darin, dass das der Klassifikation zugrunde liegende Modell den Blick für die Komplexität von Gesundheit und Krankheit schärft und somit allen Beteiligten im medizinischen Betreuungsprozess die Vielzahl von beeinflussenden Faktoren bewusst wird. Somit kann den Betroffenen eine optimale Unterstützung im Gesundungsprozess geleistet werden.

Literatur

Folgende Literatur wurde verwendet und kann zur Lektüre empfohlen werden:
  • Bengel, J.: Was erhält Menschen gesund?: Antonovskys Modell der Salutogenese. Im Auftrag der BZgA. Köln 2001. (als pdf unter www.bzga.de)
  • ICF : Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit / hrsg. vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information. World Health Organization, Genf. - Neu-Isenburg : MMI, Med. Medien-Informations-GmbH, 2005. (als pdf unter www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung
  • Franka, A.: Modelle von Gesundheit und Krankheit. Verlag Hans Huber, Bern, 2006.
  • Von Uexküll, T.& Wesiack, W.: Theorie der Humanmedizin. Urban& Schwarzenberg, 2000.